„Es war unvorstellbar, dass das passieren könnte…“

„Es war unvorstellbar, dass das passieren könnte…“

Ein Gespräch mit dem ukrainischen Arzt Serhii Tabulovych

 

„Wenn meine Kinder mich eines Tages fragen, was ich gemacht habe, als der Krieg in der Ukraine ausbrach, dann kann ich ihnen das guten Gewissens beantworten“, sagt Serhii Tabulovych. Auf seine Initiative hin ist eine wichtige Hilfsaktion zur Unterstützung der medizinischen Versorgung in der Ukraine entstanden. Ein emotionales und sehr persönliches Gespräch über den Krieg.

 

Porta Magazin: Herr Tabulovych, Ausgangspunkt des Krieges sind die Gebiete Donezk und Luhansk. Für die meisten Menschen ist es schwierig, sich ein Bild davon zu machen, was dort geschehen ist. Können Sie uns etwas über das Verhältnis von pro-russischen und pro-europäischen Menschen sagen?

 

Serhii Tabulovych: Vor 2013 waren etwa 50 Prozent der Einwohner prorussisch. Zum damaligen Zeitpunkt habe ich mich selbst auch als pro-russisch gesehen. 2014 kamen bewaffnete Männer aus Russland nach Donezk. Sie trugen grüne Uniformen ohne russische Flagge. Diese Männer besetzten Regierungsgebäude und statteten die pro-russischen Männer mit Waffen aus. Das war der Beginn des Krieges in der Ostukraine. Der Krieg, den die russische Armee 2014 und 2015 geführt hat, hat vieles verändert. Inzwischen sind höchstens noch 15 Prozent der Menschen pro-russisch. Soziologische Umfragen in der Ukraine haben mehrfach ergeben, dass die Ukrainer keine Zukunft mehr in einer pro-russischen Ausrichtung des Landes sehen. Die überwiegende Mehrheit will zu Europa gehören.

 

Man sagt, Russen und Ukrainer seien Brudervölker. Das macht es noch schwerer, diesen Krieg zu verstehen.

Wenn ich sehe, dass mein Bruder mit Waffen zu mir nach Hause kommt und meine Kinder tötet, dann entsteht Hass. Sie können das auch an den Fluchtkorridoren sehen. Die Russen haben Fluchtkorridore nach Russland geschaffen. Aber die meisten Menschen wollen nicht nach Russland. Sie haben Sorgen, was dort mit ihnen geschieht. Darum haben nur wenige Menschen die Korridore genutzt. Andererseits wollen die Menschen natürlich überleben. In Mariupol haben die Leute beispielsweise jetzt über zwei Wochen gelitten. Ich habe schreckliche Informationen über die Stadt gehört. Es gibt dort keine Wasserversorgung mehr. Die Leute haben ihre Heizungssysteme ausgebaut, um das darin enthaltene Wasser zu trinken. Wenn Sie in einer solchen Lage sind und nichts mehr haben, was Sie retten können, außer Ihr Leben und das Leben Ihrer Kinder, dann gehen Sie auch nach Russland, obwohl Sie eigentlich pro-europäisch und pro-ukrainisch sind.

Russland, Weißrussland und die Ukraine sind aus der Sowjetunion entstanden. Es gibt natürlich Beziehungen zwischen den Menschen. Meine Großeltern kamen aus Kursk, also aus Russland. Und so gibt es Millionen Familien, die miteinander verbunden sind. Die Völker haben ihre eigene Sprache und ihre eigene Kultur, aber sie standen sich aufgrund der familiären Bindungen sehr nahe. Als 2013 und 2014 die Schwierigkeiten begannen, hat die Ukraine sich von Russland distanziert. Dass wir uns politisch nahe waren, hat sich als Lüge herausgestellt. Es war einfach Imperialismus und nun zeigt sich, dass Russland wieder eine Sowjetunion errichten möchte. Für die Familien ist das schwierig. Ich kann meine Verwandtschaft nicht löschen und das will ich auch gar nicht. Mein Vater und mein Bruder leben in der Ukraine, meine Cousinen und meine Tante in Russland. Und so geht es Millionen anderer Menschen auch. Aufgrund dieser sehr engen familiären Bindungen haben gerade in der Ostukraine viele Menschen das Gefühl, eng mit Russland verbunden zu sein. Trotzdem haben die Ukrainer andere Vorstellungen davon, wie sich ihr Land politisch entwickeln soll und wie sie leben wollen. Dass die Menschen, mit denen wir so eng verbunden sind, dann mit Waffen in unser Land kommen, war unvorstellbar. Natürlich weiß man, dass die politische Führung das entscheidet und die ganz normalen Leute nichts damit zu tun haben, aber inzwischen erlebe ich im Gespräch mit meinen Verwandten, dass deren Meinungen kaum vorstellbar sind. Ich habe dann gesagt: „Okay, über Politik werden wir nicht mehr miteinander sprechen.“

 

Dabei hätten Sie gute Argumente…

Ja, man hat es ja gesehen. Putin kommt ursprünglich vom KGB. Er hat gelernt zu lügen. Noch bis zum 23. Februar haben die Russen jeden Tag gesagt, dass es Blödsinn sei, was die Amerikaner behaupten und dass es nie passieren würde, dass sie uns, ihr Brudervolk, attackieren werden. Kaum jemand hat geglaubt, dass ein solcher Krieg stattfinden würde. Wir erleben jetzt, dass alles gelogen war. Putin will einfach attackieren und er weiß, was er seinem Volk erzählen muss.

 

Spätaussiedler aus Russland haben es im Moment nicht leicht in Deutschland. Man erwartet von ihnen, dass Sie sich von Russland distanzieren. Teilweise sind sie sogar Anfeindungen ausgesetzt. Was denken Sie darüber?

Das ist natürlich nur meine ganz persönliche Meinung und Wahrnehmung - in meinem persönlichen Umfeld halten 90 Prozent der russischstämmigen Menschen den Krieg für falsch. Diejenigen, die sagen, dass Putin alles richtig macht, konsumieren ausschließlich russische Medien und unterliegen deren Propaganda. Das ist auch gar nicht verwunderlich. Wenn Sie einen Monat nur russisches Fernsehen anschauen würden, würden Sie es auch so sehen. Aber wer einmal in Kiew war, der hat gesehen, dass das Bild vom vermeintlichen Naziregime nicht zutrifft.

Sie sind von der Hilfsbereitschaft der Menschen hier tief bewegt. Über Ihre Landsleute haben Sie gesagt: „Die Ukrainer werden das nie vergessen und ihr ganzes Leben dankbar sein.“ Auf der anderen Seite hören wir ganz andere Töne vom ukrainischen Botschafter in Berlin und ukrainischen Gelehrten, die in einem offenen Brief geschrieben haben, wir Deutschen sollten uns schämen; die ukrainische Bevölkerung würde für und wegen uns sterben. Wie passt das zusammen?

Die Menschen, die von unserer Hilfe profitieren, werden ewig dankbar sein. Da bin ich mir sicher. Das Politische ist eine ganz andere Ebene. Deutschland hat wirtschaftlich und politisch eine riesige Macht. Die politische Ebene der Ukraine sagt natürlich: „Wer, wenn nicht Deutschland, Frankreich, England, USA und Japan können diesen Krieg stoppen?“ Auf der Ebene der Bürgerinnen und Bürger tun die Deutschen viel. Aber auf politischer Ebene erwartet man aber eben noch mehr.

 

Es ist nachvollziehbar, wenn die Ukraine fordert: Schließt den Luftraum, weil wir sonst sterben. Das Problem ist nur, wenn Deutschland oder die Nato den Luftraum schließen würde, müsste sie ihn auch verteidigen, was mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem dritten Weltkrieg zur Folge hätte. Das kann ja auch keiner wollen…

Ja, wenn wir sachlich und in Ruhe darüber diskutieren, kann man das so sehen. Aber wenn Sie in der Ukraine im Krieg sitzen und sehen, was dort passiert, dann spielen Emotionen eine große Rolle. Auch wenn Deutschland viel macht und viel unterstützt, ist es für den, der um sein Überleben kämpft, zu wenig. In dieser Situation kann es nie genug sein. Viele haben mit ihrer Meinung jetzt recht, sowohl auf deutscher als auch auf ukrainischer Seite. Das Problem ist, dass man nicht weiß, wo Putin bremst. Was passiert, wenn die Ukraine fällt? Polen und Estland haben bereits große Sorgen, in Deutschland glaubt man, dass es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zu einem Angriff kommen wird. Ich persönlich nehme die Möglichkeit sehr ernst, dass auch Berlin angegriffen werden könnte. Wenn das geschieht, wird man feststellen, dass Deutschland bisher zu wenig getan hat, um Putin zu stoppen. Aber wir sind alle keine Propheten. Welche Einschätzung richtig war und wo man vielleicht besser früher reagiert hätte, das wird man irgendwann in den Geschichtsbüchern lesen.

Vielen Dank für das Gespräch.

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